ARBEITSWEISE

Wanderer in Menschenlandschaften

Eine erste Annäherung an den Regisseur Yüksel Yolcu führt über ein Theatermittel der Distanzierung: die Maske. „Sie erlaubt dem Schauspieler frei zu spielen.“ Es ist dieser Ansatz, der den Schauspieler Yolcu auf seinem Weg in die Regie begleitet. Erfahren hat der damals knapp 30jährige diese Wirkung durch ein Stipendium des deutsch-französischen Kulturrates und die Begegnung mit dem Théâtre du Soleil von Ariane Mnouchkine.

 

Yolcu, Anfang der 1990er an der dortigen Hochschule der Künste ausgebildet und danach am Theater an der Parkaue engagiert, weiß um die Spiellust wie auch um die Ängste und Hemmungen des Schauspielers auf der Bühne. Als Regisseur sucht er nach Mitteln, um letztere zu überwinden. Und auch nach Wegen, um den eigenen so unterschiedlich geprägten Erfahrungen Raum zu geben. Zu einer der ersten INSZENIERUNGENen, Tschechows „Heiratsantrag“, den der Regisseur 1999 mit Gesichtsmasken und dazu einer vierköpfigen türkischen Band als „wahrhaft multikulturelles, prachtvoll sinnliches, zeitloses Stück Volkstheater“ (Zitty) auf die Bühne bringt, notiert ein Rezensent, dass man den großen Russen, der doch für erlesenes Sprechtheater stehe, auch anders inszenieren kann: „Schön, dass Tschechow ... einfach ein praller Spaß sein kann“.

 

Aus den INSZENIERUNGENen Yolcus sind Masken weitgehend verschwunden, sie bleiben ein Mittel für die Probenarbeit, verbunden mit der Idee, dass im Schutz der Typisierung Universelles erzählt werden kann. So entstehen Charaktere für die Bühne, gleichzeitig geht es dem Regisseur darum, jeden Menschen in seiner einzigartigen Prägung zu zeigen.


Hintergrund ist ein Theaterverständnis, das emotional und ganzheitlich ist. Den Dramentext einer Vorlage erschließt sich Yolcu nicht primär „literarisch“. Was den Regisseur auszeichnet, ist das unbedingte Interesse an den Figuren und ihren Konflikten in den Stücken, die er selbst als „Menschenlandschaften“ bezeichnet. So wie Yolcu in einem Interview Shakespeare als „Weltenwanderer ... zwischen dem Göttlichen, dem Geheimnis und dem Sterblichen“ bezeichnet, der „die Menschen in ihrem Kern getroffen“ habe, könnte man seine Arbeit als Wanderung in Menschenlandschaften beschreiben, die er zusammen mit seinen Schauspielern erkunden und dem Publikum erschließen möchte.


Auf der Bühne bedeutet das konkret, dass für viele Szenen ein spielerischer (nonverbaler) Einstieg gesucht wird, um die Situationen eines Stückes zu stärken, das körperliche Spiel ist dem Sprechen mindestens gleichrangig Genauigkeit macht sich in diesen Aufführungen nicht an wortwörtlicher Texttreue fest, sondern im Zusammenspiel der Figuren und präziser Beobachtung. Yolcu inszeniert nicht Texte, sondern Menschen.


Gerade auch einem Kinder- und Jugendpublikum kommt ein solch emphatischer Zugang entgegen. Verstärkt wird dieser in zahlreichen Arbeiten (wie z.B. der INSZENIERUNGEN von Nick Woods Stück „Fluchtwege“) durch eine Bühnenraumlösung, die das Publikum auf mindestens zwei Seiten des Geschehens platziert. Die Aufführung wird zum gemeinsamen Erlebnis und Ereignis. Gleichzeitig erleben die Zuschauer in Stücken wie „Fluchtwege“, in „Haram“ oder „Der Junge mit dem Koffer“ , bei denen zwei oder drei Spieler zahlreiche Figuren verkörpern, die Rollenwechsel auf der meist nur sparsam dekorierten Bühne als theatralen Akt – eine epische Distanzierung, in der noch einmal das eingangs beschrieben Motiv der Maske anklingt. Dieses Spiel mit Perspektiven zeigt eine letzte noch zu erwähnende Qualität des Regisseurs Yolcu: die Lust am Erzählen, die mit der Fähigkeit einhergeht, schnelle Wechsel auf der Bühne zu inszenieren.


Dass sich diese Lust auch aus selbst erfahrener orientalischer Erzähltradition speist, würde Yolcu wohl nicht bestreiten, auch wenn er wenig Interesse hat, sich als „Regisseur mit Migrationshintergrund“ zu profilieren – schließlich ist er auf der Suche nicht nach einer Nische für sich, sondern nach universellen Qualitäten des Theaters, die heißen: Position beziehen, Haltung zeigen, in den dargestellten Geschichten einen Zugang finden zur emotionalen Welt der Figuren, der Spieler und nicht zuletzt: des Publikums.

 

Winfried Tobias, Dramaturg, Intendant

(Quelle: Goehte Institut, Kinder - und Jugendtheater in Deutschland)